Was wir in Zukunft alles dürfen

Ein persönlicher Beitrag von Hans Widmer. Siehe auch: «Warum haben wir eigentlich immer noch Kapitalismus?»

Momentan dürfen wir nur noch wenig. Viele freuen sich sogar darüber, etwa die Ökolog*innen, weil Flugzeuge am Boden bleiben, der Autoverkehr abnimmt und schädliche Industrien, wie eben die Autoindustrie, stillstehen. Wo keine Boote mehr fahren, wird das Wasser klar und freuen sich die Fische. Die aktuelle – durchaus berechtigte – Verbotskultur droht nun als ökologische Verbotskultur weitergeführt werden.

Die Bekämpfung einer Pandemie braucht gesamtgesellschaftliche Regulationen; der Aufbau einer neuen Zivilisation, die ökologisch tragbar, ökonomisch gerecht und psychosozial lustig sein soll (oder würden wir uns sonst dafür einsetzen?), muss sie auf ein Minimum reduzieren. Wir wollen endlich selber machen können, selber bestimmten, selber definieren, uns selbst regulieren, wo es nötig ist. Gesamtgesellschaftliche Regulation wird immer ihren Platz haben, vor allem als gerechte Unterstützung von Selbstwirksamkeit weltweit, auch Climate Justice genannt (seit 1998 übrigens). Öffentliche Dienstleistungen (von Quartier bis Planet) sollen subsidiär lokal abgestuft und demokratisch als Commons verwaltet sogar massiv ausgebaut werden. Wir wollen praktisch alle staatliche Teilzeitangestellte werden, inklusive Gesundheitsversorgung und Existenzgarantie. Ich finde das besser als das individualisierende, unverbindliche Grundeinkommen, das manchmal als supergeniale Regulierungsidee herumgeistert.

Statt uns zu fragen, was wir sonst noch alles (es geht hier nicht darum, ob es sinnvoll wäre) verbieten könnten – Fleisch? Käse? Motorräder? Zweitwohnungen? Autos? Zigarren? SUVs? – sollten wir uns fragen, was wir denn, wenn wir die marktwirtschaftlichen, kapitalistischen oder sonstwie geheiligten Zwänge los sind, neu endlich dürfen. Oder nicht mehr müssen.

Ich mache einmal eine (unvollständige) Liste:

  • Wir müssen nicht mehr in öden Einfamilienhäusern oder Agglosiedlungen wohnen, sondern dürfen in vielfältigen, komfortablen und unterhaltsamen städtischen Nachbarschaften leben, in einem grossen, technisch gut ausgerüsteten Haushalt tätig sein und viel feiern.
  • Wir müssen keine Existenzängste als isolierte Kleinunternehmerinnen mehr haben und dürfen als angestellte Mitgenossenschafter*innen von Nachbarschaften oder in den breit gefächerten öffentlichen Diensten (dazu gehören Kochen, Haareschneiden, Kleinkinderbetreuen, Pralinéformen, Physiotherapieren, Rolfing, Pédiküren usw.) abgesichert und sorglos für andere Angehörige des gleichen Commons tätig sein.
  • Wir müssen nicht mehr mit privaten Restaurants um unsere Existenz kämpfen, sondern können Köche und Gastgeberinnen in einem der 16 Millionen Nachbarschaftsrestaurants auf dem Planeten werden
    Wir müssen nur noch die Hälfte in formellen, bezahlten Jobs arbeiten, weil wir weniger produzieren müssen, und dürfen uns Tätigkeiten in Nachbarschaften oder öffentlichen Diensten aussuchen, die uns Freude machen und deren Sinn und Zweck wir direkt erfahren – no more Bullshit Jobs!
  • Wir müssen nicht mehr für drei Wochen nach Griechenland, Thailand oder Mallorca fliegen, sondern dürfen alle fünf Jahre ein Jahr frei nehmen, mit den neuen, luxuriösen Bahnverbindungen nach Athen (in den 70er Jahren gab’s mal eine Direktverbindung Lausanne-Athen!), Bagdad, Tanger (inkl. Fähre), Stockholm, Lecce (auch da gab’s mal direkte Züge) oder bis Goa fahren. Dank Schlaf-, Speise-, Fumoir- und Boudoirwagen werden die langen Reisen zu einem Genuss und der 11-monatige Aufenthalt zu bereichernden Erfahrungen. Wir dürfen durchaus hie und da wieder fliegen, weil die meisten Flüge überflüssige Geschäftsreisen waren.
  • Wir müssen nicht mehr freundlich begrüsste, aber eigentlich als Einkommensquelle verachtete Tourist*innen sein, sondern dürfen einfach unsere vielen Freund*innen in seit langem bekannten Nachbarschaften und Quartieren in aller Welt als willkommene Gäste besuchen – und ein bisschen mitarbeiten.
  • Wir müssen nicht mehr genervt in Shoppingcentern herumhetzen, sondern können uns dank unserer eigenen Landbasis mit genau den Produkten, die wir selber wollen und anbauen, versorgen. Wir dürfen selber gut dosiert auf Äckern, in Gärten und in Ställen mitwirken. Was von weit her kommt, können wir von befreundeten Genossenschaften zu fairen Preisen beziehen und im Quartierdepot abholen.
  • Wir müssen kein privates Auto mehr besitzen und uns um Unterhalt und Parkplätze sorgen, sondern können hie und da den Nachbarschaftscadillac benützen um Freund*innen und Schwiegermütter vom Bahnhof abzuholen. Wir dürfen das Elektro-Auto überspringen und direkt zu einem andern Verkehrssystem übergehen.
  • Wir müssen nicht mehr Velofahren und wandelnde Philosoph*innen erschrecken, weil wir überallhin zu Fuss gelangen können.
    Wir müssen nicht mehr Rasen mähen, weil wir überall permakreative Gärten angelegt haben.
  • Wir müssen nicht mehr Alkoholiker*innen, Dicke oder Raucher*innen sein, weil wir so viel trinken, essen und rauchen können, wie wir wollen, ohne dass uns jemand in eine Schublade steckt.
  • Wir müssen nicht mehr populistische Rechtsparteien wählen, weil wir Angst vor uns selbst, allen andern und der Zukunft haben müssen. Wir dürfen aus einem Dutzend bisher unbekannter Parteien auswählen wie: Panhedonistische Partei (PHP), Sybaritische Verführungspartei (SVP), Individualdemokratische Partei (IP), Pansexuelle Meditations-Union (PMU), Partei der Nichtarbeit (PdN), Alternative für alle (AfA)…
  • Wir müssen keine Fussballstadien mehr bauen, weil wir jederzeit auf den leeren Strassen und Plätzen tschutten können.
  • Wir müssen nicht mehr gegeneinander um ein grösseres Stück vom Kuchen kämpfen, weil wir die ganze Bäckerei übernommen haben.
  • Wir müssen nicht mehr ökologisch sein, weil unsere Lebensweise schon ökologisch ist.

Was will ich damit sagen? Warum sollen wir eine verknorzte und erst noch uneffektive Ökologisierung des Kapitalismus versuchen, wenn wir das Grundübel loswerden könnten? Wir wollen uns keine Verzichtskultur aufzwingen lassen um einige der schlimmsten Auswirkungen einer grundsätzlich verfehlten Gesellschaftsform zu milden. Wenn wir schon anders müssen, dann wollen wir auch ganz anders dürfen. Wer meint, dass man den aktuellen medizinisch bedingten Ausnahmezustand als Übungsvorlage für eine kommende Ökodiktatur missbrauchen kann, wird sich radikal täuschen. Es kommt alles ganz anders!

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